Rosemarie stand an Deck eines mächtigen Ozean-Dampfers, der MS Toni hieß und sich mit aller Kraft gegen die dunkeln Wellen der Ostsee stemmte. Noch zwei Stunden, dann war sie endlich wieder in ihrer Heimat.

Erst jetzt bemerkte die Maus, dass am anderen Ende der Reling noch ein Passagier stand und sehnsüchtig auf’s Meer blickte. Er trug einen dunklen Mantel und hatte einen langen weißen Bart, der im Wind wehte.
Rosemarie ging zu ihm und sprach ihn an.
„Wollen Sie auch nach Lübeck?“
„So ist es“, sagte der Mann, der eine gemütlich-brummig-dunkle Stimme hatte und lächelte der Maus zu. „Wir haben ja bald Weihnachten. Da sollte man zuhause sein.“
„Das finde ich auch“, sagte Rosemarie.
„Und du hast die Welt bereist, kleine Maus?“, brummte der Alte.
„Mich hat in diesem Jahr kaum jemand in meiner Kirche besucht“, sagte Rosemarie.
„Da wollte ich gerne herausfinden, was die Menschen so machen und ob es ihnen gut geht. Deshalb bin ich durch die Hansestädte gereist.“
„Geht es ihnen denn gut?“, brummte der Alte, während sein langer weißer Bart im Seewind flatterte.
„Zum Glück ja“, sagte Rosemarie. „Sie machen das Beste aus der schwierigen Zeit. Das ist es, was ich an den Menschen mag. Sie finden immer einen Weg, nach vorne zu sehen.“
„Das tun sie“, brummte der Alte. „Wahrlich, das tun sie …“
Der kreisrunde Mond, der wie ein blasser Eidotter aussah, hing am schwarzen Himmel und tauchte die ganze Szene in ein helles Licht.
„Mögen Sie die Menschen auch so gern?, fragte Rosemarie.
Jetzt lächelte der Alte zum ersten Mal und sagte: „Schon seit sehr sehr langer Zeit, kleine Maus …“

Als die MS Toni in Lübeck ankam, sprang die Maus Rosemarie voller Freude auf den Kai.
Endlich hatte sie wieder festen Boden unter den Pfoten. Sie winkte fröhlich dem alten Mann zu, der einen riesigen, prall gefüllten Sack von Bord schleppte, und der Alte winkte genau so fröhlich zurück. Wenn
Rosemarie sich nicht täuschte, hatte er ihr sogar zugezwinkert. Sie sah dem Mann nach. Plötzlich glaubte sie, ihn irgendwoher zu kennen. Unter seinem dunklen Mantel schaute der Saum eines roten Umhangs
heraus, und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass aus der Öffnung des Sacks die Schleife eines Geschenks hervorlugte …

Als die kleine Maus die Kirchentür öffnete, erklang bereits ein lautes Schnarchen.
Typisch Kater Kurt. Trotzdem freute sich Rosemarie über das Geräusch. Sie hatte es wirklich sehr vermisst. Es gibt nur einen richtigen Ort um Weihnachten zu feiern, dachte Rosemarie: nämlich zuhause.
Sie machte es sich in ihrer Höhle angenehm warm, spannte ihre neue Mäuse-Hängematte auf, legte sich hinein und rollte sich zusammen. Sie dachte an Edith und Eberhard Opitz, Juliette, Maarja, Lina und Lena, Olaf und Anke, Henry und Alma und an Lilija. Sie alle hatten stellvertretend für Millionen von Menschen etwas Positives an der schweren Zeit gefunden – und außerdem ging es ihnen gut.

Morgen, am Weihnachtstag würde Rosemarie, wie jedes Jahr, mit dem Kater Kurt feiern.
Sie würde ihm eine Dose Thunfisch schenken und er ihr ein Stück Käse. Dann würden sie es sich gemütlich machen, Rosemarie würde von ihrer Reise erzählen und Kurt würden über der Erzählung die Augen zufallen. Irgendwann verreise ich mal wieder, dachte Rosemarie. Vielleicht nach …

Doch da war sie schon eingeschlafen.

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