Doch bevor sie den Gedanken zu Ende grübeln konnte, entdeckten ihre müden Mäuseaugen einen kleinen Mauerspalt. Obwohl Rosemarie nach der langen Reise durchaus noch ein Stückchen Schokolade oder Speck und vor allem einen großen Fingerhut voll Wasser in einer zünftigen Mauswirtschaft hätte vertragen können, gähnte sie: „Erst mal schlaaaaaafen …!“
Und zwängte sich in den engen Spalt.

Doch dahinter verbarg sich zu ihrem Erstaunen keine gemütliche Höhle, sondern ein düsterer Gang. Sie folgte dem Gang, der sich in seltsamen Windungen lang und länger durchs Mauerwerk zog, immer tiefer hinein in den Stein. Rosemarie wollte schon umkehren, als sie ein schummriges Licht entdeckte, auf das sie nun vorsichtig zusteuerte. Wo zum Katzenklo war sie denn hier bloß gelandet …?

Sie tapste noch zwei, drei Schritte nach vorne und erstarrte.

Rosemarie stand plötzlich inmitten unzähliger Wolkenkratzer, die sie in dämmrig-goldenem Licht umringten wie eine Ansammlung stummer Riesen. Die verschachtelten Etagen der Hochhäuser wuchsen in gewundenen Formen in den Himmel, so hoch, dass die Spitzen in der Dunkelheit verschwanden.
„Ich bin“, sagte Rosemarie zu sich, und konnte es selbst kaum glauben, „in New York!“

Eine ganze Weile lang blickte sie sich staunend um. Wie war sie denn bloß mit dem Motorrad in so kurzer Zeit nach Amerika gekommen? Doch bevor Rosemarie eine Antwort finden konnte, ertönten Schritte – und das rundliche Gesicht einer freundlichen Frau schaute zwischen den Hochhäusern hindurch.

Als das Gesicht Rosemarie entdeckte, strahlte es. „Wie schön! Endlich haben wir mal wieder
eine echte Leseratte im Haus!“
„Tut mir leid“, sagte Rosemarie, „aber ich bin keine Ratte, sondern eine Maus.“
„Ratte, Maus, was macht das schon für einen Unterschied!“, rief das freundliche Gesicht.
„Naja, einen Unterschied macht das schon“, stellte Rosemarie fest. „Aber sagen Sie mal – sind wir hier in New York?“

Jetzt fing das freundliche Gesicht an, schallend zu lachen. Das dauerte ungefähr dreieinhalb Minuten und klang sehr lustig (im Grunde wie ein Huhn, wenn man es kitzelt), so dass
Rosemarie glatt mitlachen musste.
„Ich bin die Juliette“, sagte das Gesicht. Dann schaltete Juliette das Licht ein. „Und du bist  hier nicht in New York, sondern in der Stadtbücherei von Brügge.“

Rosemarie traute ihren Augen nicht. Was sie im Halbdunkel gerade noch für Hochhäuser gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Türme aus unzähligen Büchern, die fast bis zur Decke reichten. Juliette, die Bibliothekarin, erklärte Rosemarie, dass die Menschen seit Wochen wie verrückt Bücher ausleihen..
Rosemarie entdeckte viele berühmte Namen auf den Buchrücken: Thomas Mann, Günter Grass, Juli Zeh, Thomas Pletzinger, Karen Köhler, Roman Ehrlich …
„Wir kommen mit dem Einsortieren gar nicht mehr hinterher“, stöhnte Juliette.
Doch Rosemarie lächelte. Lesende Menschen stellte sie sich als sehr sympathische Zeitgenossen vor.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich die Maus von Juliette. Sie sagte: „Ich sehe, dass die Menschen das Beste aus dieser schweren Zeit machen. Toll, dass sie so viele Bücher lesen – auch wenn du dadurch mehr Arbeit hast. Jetzt muss ich weiter – denn ich will wissen, ob es all den anderen Menschen in den anderen Städten genauso gut geht.“

„Gute Reise, kleine Leseratte“, sagte Juliette und verbesserte sich schnell: „Ich meine natürlich: Lesemaus!“

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