Der kleine
Zeitgeist

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Nun ließ er sich weitertreiben durch die vielen schönen Gassen, schlängelte sich durch Gänge und Höfe vorbei an Stockrosen und Sitzbänken mit Aussicht. Das warme Licht der Nachmittagssonne schien ihm auf das weiße Gewand. Dann gelangte er zurück auf die größeren Straßen. An einer Straßenecke bemerkte er sein eigenes Spiegelbild in einem leeren Schaufenster. Noch nie hatte er sich selbst gesehen und betrachtete sich mit großem Interesse. Erstaunt sah er seine großen, wachen Augen und seine kleine, niedliche Zahnlücke. Seine Brille saß ein bisschen schief. „Macht doch nichts“, dachte er bei sich, „ich kann trotzdem die Schönheit der Welt entdecken“.

Dann schwebte er ein bisschen weiter und fand sich erneut im Spiegelbild eines leerstehenden Hauses, diesmal war es sogar ein sehr großes Haus. „Das ist ja toll: die Menschen bauen sich große leerstehende Häuserkästen mit großen Glasscheiben, einfach nur, damit man sich darin spiegeln kann. Sich selbst und sogar die schönen alten Häuser! Die spiegeln sich nämlich auch darin“, beobachtete er aufmerksam. „Das ist ja fantastisch, lauter Spiegelkästen! Die Menschen sind wirkliche Kästchen-Fans – es gibt sie in ALLEN Größen!“. Er war fasziniert und schwebte etwas stürmisch so nah an die Glasscheibe wie es nur irgend ging und da machte es plötzlich boing! Er hatte sich den Kopf gestoßen. Während er sich das kleine Köpfchen rieb und die Brille richtete, bemerkte er, dass jemand neben ihm stand, der ihn mit lauter großen Fragezeichen auf der Stirn betrachtete. Es war ein kleiner Junge. Er hieß Rasmus. Also eigentlich hieß er Carl, aber alle nannten ihn Rasmus.

„Du sollst dich doch nicht selbst angucken, sondern in das Haus hineinschauen! Bis vor Kurzem konnte man hier viele schöne Sachen entdecken und kaufen. Leider steht jetzt ALLES LEER.“
„Das ist ja wirklich sehr schade“, sagte der kleine Ü und war ein wenig betrübt. Dann bemerkte er: „Aber das muss doch nicht so bleiben! Das kann man doch wieder ändern! Am besten jetzt gleich! Man bräuchte nur eine Idee.“

„Also wenn ich einen Schlüssel für den leeren Kasten hier hätte, dann wüsste ich schon, was ich machen würde“, sagte Rasmus. „Ja? Mit diesem Haus? Was denn?“. Jetzt wurde der kleine Zeitgeist natürlich neugierig. „Ich würde aus lauter altem Zeug – Plastikmüll, Pappkartons, Klorollen und Rohren – die größte Murmelbahn der ganzen Welt bauen! Und alle könnten es vom Schaufenster aus betrachten und Freude daran haben.“

„Freude teilen“, dachte der kleine Zeitgeist, „Freude teilen, das ist schön“, dachte er, während er begann, in seinem Geistergewand zu wühlen. Er kramte einen kleinen Schlüssel hervor. „Den schenke ich dir“, sagte er, „Den habe ich von einem Geist geschenkt bekommen, der in einem Türschloss gewohnt hat. Der Schlüssel passt in alle Schlösser Lübecks, probier‘ es mal aus!“. „Oh, danke!“, rief Rasmus voller Begeisterung und rannte los, um seinen Freund Ben zu holen. Und das gaaaaanze Baumaterial. Rasmus hatte eine Menge gesammelt. Er konnte alles gebrauchen und hatte nur auf den passenden Einsatzort dafür gewartet.

Der kleine Zeitgeist blieb noch eine Weile vor dem Schaufenster stehen und beobachtete, wie die Kinder emsig bauten. Ab und zu ging was schief und insgesamt war alles krumm und sah ein wenig verbeult aus. Manchmal kippten Einzelteile der Murmelbahn einfach um. Und nichts an der Murmelbahn war perfekt. Das schien die Kinder aber überhaupt nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Leise verabschiedete sich der kleine Übergang und dachte: „Das Perfekte ist das Unperfekte. Kinder sind sehr weise“. In diesem leisen Moment wuchs er wieder ein klitzekleines bisschen, auch kitzelte sein Näschen, aber vor lauter Begeisterung merkte er es schon wieder überhaupt nicht.