Der kleine
Zeitgeist

00:00

Am frühen Morgen, als der kleine Ü mit einem erneuten, 13-fachen „Haaaaaatschi“ aufwachte, beschloss er, dass er eine Luftveränderung brauchte. Ohnehin wollte er ja die Welt der Menschen erkunden. Na gut, nicht die gaaaaaanze Welt. Nur die schöne Hansestadt Lübeck. Aber er war ja ziemlich klein und die Stadt für ihn wie ein einziger Riese. Natürlich ein sehr freundlicher Riese.

Als er sich durch das Kellergewölbe gewühlt hatte, sah er endlich irgendwann Licht am Ende des Tunnels. Das ist immer ein gutes Zeichen, nicht nur für Zeitgeister. Der kleine Ü hatte zuvor nur ein einziges Mal seine Wohnung verlassen. Das war als Jürgen sich verabschiedet hatte. In die Rente. Diesmal schwebte er an einer anderen Stelle durchs unterirdische Backsteinmeer bis nach oben zur Welt der Menschen. Oben angekommen, musste er blinzeln, weil seine Augen sich erstmal an die Helligkeit gewöhnen mussten. Er bewunderte die schönen alten Häuser, entdeckte Kopfsteinpflaster und größeres Pflaster und andere Steine.

„Lustig, hier ist es ja genauso steinig wie unten in meiner Wohnung“, fiel ihm auf. „Diese Stadt ist ja steinreich! Hier wohnen überall Backsteinmillionäre! Die Menschen mögen die Steine in allen Farben und Größen und Formen – lauter Steinkästchen nebeneinander. Das reinste Paradies. Stein auf Stein auf Stein. Fein, fein. Also, äh – wenn man Steine mag. Und genau das frag’ ich mich eben die ganze Zeit: ob die Menschen wirklich alle steinverliebt sind? Schließlich sieht man den Wald vor lauter Steinen gar nicht mehr.“ Da kam er ins Grübeln und übersah dabei einen großen Pflasterstein, blieb mit seinem Zeitgeistgewand hängen und plumsdibums, landete er unsanft auf seinem Popo.

Als er sich wieder aufgerappelt hatte, entdeckte er neben sich ein kleines Mädchen, das ihn interessiert von der Seite beobachtete und so aussah, als könne es Gedanken lesen. Dann sagte es mit sicherer Stimme: „Also ich würde hier ja ganz gern mal welche rausnehmen von den ganzen Steindingern am Boden und einfach losbuddeln mit all‘ meinen Freundinnen und Freunden. Eine riesige Buddelsandkiste mittendrin wäre mir am Allerliebsten!“. „Ich bin übrigens Marta“, sagte das Mädchen mit den Sommersprossen, „und wer bist du?“. „Ich bin der kleine Übergang, kannst mich aber einfach Ü nennen. Ich bin ganz neu in der Stadt“. Bei dem Gedanken, hier und da die Steinwelt ein klitzekleines bisschen aufzubrechen, musste er grinsen. Die Idee gefiel ihm.

In dem Moment fing seine Nase an zu kitzeln. Musste er etwa schon wieder niesen? Nein, ganz und gar nicht, sondern: er begann zu wachsen! Ein klitzekleines bisschen nur. Das fiel niemandem auf. Nicht einmal der kleine Ü selbst bemerkte es. Woran das wohl lag?

„Lass‘ uns das doch einfach mal ausprobieren, Marta,“ sagte der kleine Zeitgeist „Bei den vielen Steinen fällt‘s doch keinem auf, wenn hier und da mal welche fehlen. Das könnte richtig spaßig werden.“ „Stimmt“, sagte Marta und fing an, zaghaft den ersten Stein auszubuddeln. Und dann noch einen. Und noch einen. Langsam konnte man sich die Buddelsandkiste schon vorstellen.
„Du machst das schon“, sagte Ü, „Ich komme morgen wieder und dann buddeln wir zusammen, ok?“ Marta nickte und freute sich.