ZUM AUSRASTEN SCHÖN

ZUM AUSRASTEN SCHÖN

Zsuzsa Bereznai über Glaube, Gesang und Glücksgefühle im Weltkulturerbe

Wir sitzen an einem großen Holztisch mitten im Raum. Kein Tisch wie er inzwischen in allen Esszimmern steht. Dieser Tisch ist ein Familienstück, voller Geschichte und Erinnerungen. Er erzählt von bewegten Jahren, von vielen Menschen, die an ihm Platz genommen haben und vor allem von der Frau, die plaudernd um uns herumwirbelt. Zsuzsa Bereznai ist eine leidenschaftliche Gastgeberin, das merkt man gleich. Sie will es uns schön machen und wir fühlen uns sofort zu Hause. Im Hintergrund versuchen sich drei Wellensittiche lautstark Gehör zu verschaffen, doch unsere Ohren sind ganz bei Zsuzsa und ihrer Stimme. Die Stimme einer ausgebildeten Opernsängerin, weich und klar zugleich.

Die alten Steine erzählen so viel

Das musikalische Talent wurde ihr in die Wiege gelegt. Als ihre Eltern 1979 mit vier Kindern aus Budapest flohen, war sie drei. Vieles ließen sie zurück: Freunde:innen, ihr Zuhause, ihre Heimat, „doch die silberne Querflöte meines Bruders musste mit. Das war meinen Eltern wichtig“, erinnert sich die heute 43jährige Mutter zweier Kinder. Auch sie führen die musikalische Tradition der Familie fort, spielen Akkordeon, Klavier und Schlagzeug. Der 17jährige Anton singt in der Lübecker Knabenkantorei, ein Aushängeschild, das es sogar in Thomas Manns „Buddenbrooks“ geschafft hat und noch heute gerne für besondere Veranstaltungen der Stadt engagiert wird. In der Weihnachtszeit füllt die Knabenkantorei mit ihrer geistlichen Chormusik die berühmte Marienkirche und begeistert allein bei diesen vier Auftritten alljährlich über 3.000 Zuhörer:innen. Dabei sei St. Marien für Sänger:innen ein durchaus schwieriges Terrain, verrät Zsuzsa. Mit bis zu 13 Sekunden Nachhall erfüllen die Töne den eindrucksvollen Innenraum einer der größten Konzertsäle Lübecks. Stadt der sieben Türme – die Kirchen prägen die Silhouette der Hansestadt wie kein anderes Gebäude und waren entscheidend für die Ernennung der Altstadt zum UNESCO Welterbe. Was für ein Glück muss es sein, sie als seinen Arbeitsplatz bezeichnen zu dürfen. Das sieht die Sopranistin genauso und gerät ins Schwärmen: „Die alten Steine erzählen so viel – Lübecks Kirchen sind einfach zum Ausrasten schön“. Sie selbst ist Mitglied von St. Aegidien, einer kleineren Kirche mit einer „wunderschönen Akustik“, die den weichen Klang ihres lyrischen Koloratursoprans besonders gut zur Geltung kommen lasse. Einer ihrer Lieblingskomponisten ist Johann Sebastian Bach: „Mit seiner Musik bin ich groß geworden. Sie ist so echt und geht mitten ins Herz“. Wenn Zsuzsa über Musik spricht, schwingt immer ganz viel Wärme mit und so strahlt sie selbst in großer Robe diese ansteckende Herzlichkeit aus, mit der sie uns willkommen geheißen hat.

Von Platten Füßen, Zweifeln und Hoffnung

Zurück an unseren Holztisch. Inzwischen liegt Kaffeeduft in der Luft und Zsuzsa hat eine Kerze angezündet. Wie wohltuend muss es sein, hier anzukommen, nach einer langen Reise, manchmal entbehrungsreich und doch mit einem großen Ziel vor Augen. Lübeck liegt auf der jütländischen und baltischen Pilgerroute nach Santiago de Compostela, dem Pilgerziel, das spätestens seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ auch Nicht-Gläubigen ein Begriff ist. Fünf Jahre lang hat Zsuzsa mit ihrer Familie Pilger:innen eine Herberge gegeben, einen Ort zum Durchatmen, einen Platz an „unserem“ Tisch. Man wünschte, er könnte wirklich sprechen und uns all die Geschichten zuflüstern, die hier erzählt worden sind. Von platten Füßen, Zweifeln und Hoffnung, von Aufgabe und Vorfreude: Gespräche über Gott und die Welt – im wahrsten Sinne des Wortes. Zum Glück gibt es ein Gästebuch aus dieser Zeit, das einen kleinen Einblick gewährt, wie viel den Pilger:innen die Stunden bei und vor allem inmitten der Familie bedeutet haben. Ewig könnte man sich darin vertiefen. Persönliche Geschichten von Menschen, die auf der Suche sind – nach Abstand, Trost, oder „einfach“ nach sich selbst. Dabei strahlt das Buch eine unglaubliche Fröhlichkeit aus und man sieht sie förmlich vor sich, diese trotz allen Tiefgangs oft heiteren Runden an Zsuzsas Holztisch. „Glücksgriff“, „Pilgerparadies“ – Worte wie diese beschreiben immer wieder die große Dankbarkeit ihrer Gäste aus aller Welt. Eine Frau aus Norwegen war 424 Tage unterwegs, bevor sie bei Zsuzsa eingekehrt ist, ein anderer bereits auf seiner 18. Etappe. Und wir? Wir überlegen uns dreimal, ob wir die Strecke zum Bäcker zu Fuß gehen oder nicht doch lieber das Auto nehmen sollen. Alles muss schnell gehen in unserer Zeit, eine Pilgerreise ist das Gegenmodell und für zunehmend mehr Menschen der richtige Weg, das sprichwörtliche Hamsterrad zu verlassen.

Gott gibt mir Halt

Selbst gepilgert ist Zsuzsa noch nie. Die Nähe zu Gott jedoch sucht sie jeden Tag. „Beten lenkt den Blick weg vom stressigen Alltag und man begreift, dass wir im Leben oft nur Bruchstücke sehen, die uns aufregen, ärgern, traurig machen. Wer Gott liebt, für den wird alles gut“. Manchmal kann es so einfach sein. „Gott gibt mir Halt“, sagt Zsuzsa und meint damit sicherlich auch die Momente, in denen sie ihren früh verstorbenen Mann, ihre „echte“ Schulter zum Anlehnen besonders vermisst. So viele Facetten in einer Person: Opernsängerin und Zweifach-Mama, Coach für Manager und Herbergsmutter, stark und weich zugleich.

„Vielen Dank, dass du uns Tür und Herz geöffnet hast“, steht unter einem Eintrag im Tagebuch. Welch wunderschönes Kompliment. Dem können wir uns nur anschließen.

ZSUZSA UND KLARA

Großer Auftritt, großes Herz – Zsuzsa Bereznai kann beides. Zusammen mit ihrer elfjährigen Tochter Klara zeigt uns das Multitalent, wo die Pilgergeschichte der Großen Gröpelgrube ihren Ursprung hatte. Inzwischen wieder frei gelegte Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert zeugen von einer Epoche, die noch ganz im Zeichen des Glaubens stand. Unter den Augen des Heiligen Christopherus und des Bildnisses von Johannes dem Täufer schliefen auf den kargen Bänken damals bis zu 140 Menschen gleichzeitig. Wieder einer dieser historischen Schätze, der im Zuge der Lübecker Altstadtsanierung in den 1970er Jahren gehoben und von der UNESCO als schützenswert anerkannt wurde.

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