Rosemarie rannte, so schnell sie konnte, zum Bahnhof. Sie hatte ein wenig die Zeit vergessen, weil sie an einem prächtigen Walnussbaum vorbeigekommen war, und sich mal so richtig ordentlich den Bauch vollgeschlagen hatte. Nun musste sie sich sputen – denn den Zug nach Tallinn wollte sie auf keinen Fall verpassen.

Der Schaffner blies schon in seine Trillerpfeife als Rosemarie am Bahnsteig ankam. Sie sprang mit letzter Kraft die zwei eisernen Stufen hinauf und hinein in Zug – sofort  schloss sich die Tür hinter ihr mit einem lauten Knall. Geschafft! Ohrenbetäubendes Zischen ertönte, dazu ein rhythmisches Sch-Sch-Sch-Sch, Sch-Sch-Sch-Sch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Die kleine Maus stolperte in das erstbeste Abteil, kletterte auf einen der Sitze und ließ sich in die weichen Polster fallen. Es war wunderbar warm und gemütlich hier drin. Statt einer Glühbirne brannte seltsamerweise eine Petroleumlampe, die einen angenehmen Duft verbreitete, und leicht vor sich hin flackerte. Beinahe wie ein Kaminfeuer, dachte Rosemarie, die vor Müdigkeit und Erschöpfung fast einschlief.

Jetzt erst bemerkte die Maus, dass auch noch andere Reisende in ihrem Abteil saßen. Da war ein eleganter Herr im feinen Anzug, der in seiner Tageszeitung las, und offenbar mit seinen vier Söhnen reiste. Zwei von ihnen spielten eine Partie Schach, einer dritter las in einem Buch und ein Kleinkind kuschelte mit seinem Teddy.

„Herr Vater“, sagte einer der Jungen, „ich freue mich schon so sehr darauf, gemalt zu werden!“
Der Vater lächelte. „Zu Recht, mein Sohn. Der Maler Munch ist ein Meister seines Fachs, er wird euch vortrefflich porträtieren.“
„Das wird wunderbar“, freute sich der Junge. „So wissen Menschen noch in ferner Zukunft, wie wir ausgesehen haben!“
„Und ihr selbst vergesst es auch nicht, wenn ihr einmal so betagt seid wie ich“, sagte der Vater.

Rosemarie wunderte sich. Diese Familie benutzte ja eine seltsame Sprache. Begriffe wie „Herr Vater“, „vortrefflich“ oder „betagt“ hatte Rosemarie bestimmt schon hundert Jahre lang nicht mehr gehört. Jetzt bemerkte die Maus, dass die älteren Söhne feine Lederschuhe statt Turnschuhe trugen, und edle Westen statt T-Shirts. Das Licht der Petroleumlampe flackerte. Rosemarie fielen für ein paar Sekunden die Augen zu. Von
draußen tönte das einschläfernd-rhythmische Sch-Sch-Sch-Sch, Sch-Sch-Sch-Sch …

Wo bin ich hier bloß gelandet, wunderte sich die Maus Rosemarie, während sich die Bilder aus dem Zug mit ihren Eindrücken aus Riga vermischten. Es kommt mir beinahe so vor, als würde ich mit diesem Dampfzug durch die Zeit reisen …

Ein schriller Pfiff aus einer Trillerpfeife ertönte.

Rosemarie schreckte aus den Polstern hoch – sie war tief und fest eingeschlafen und saß jetzt allein im Abteil. Die Familie war verschwunden. Die Maus rieb sich ihre Äuglein. Hatte sie das alles etwa nur geträumt

„Tallinn“, rief der Schaffner auf dem Bahnsteig. Rosemarie sah sich noch einmal verwundert im Zugabteil um. Da entdeckte sie eine kleine weiße Schachfigur, die auf dem Boden lag …

„Endstation, bitte alle aussteigen!“
Eilig sprang sie von ihrem Sitz und lief zur Tür. Sie hatte sich schon so sehr auf Tallinn gefreut – in wenigen Sekunden würde sie es kennenlernen.

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